2014 || Selected Works |
Was für ein unfassbares Gefummel. Natürlich ist die Künstlerin Renata Palekcic geduldig, anders ist so ein Gebilde nicht zu entwickeln. Mit Sicherheit ist sie auch kurzsichtig, denn für weitsichtige Menschen ist eine solche Beschäftigung undenkbar.
Interessant ist, dass dieses Gebilde aber mit keiner Öse (und davon hat es wahrlich genug) davon berichtet, dass es über einen langen Zeitraum entwickelt wurde, mit unendlicher Geduld. Es ist einfach da und schockt den Betrachter, der näher an das Bild herantritt.
Dieser muss natürlich geschockt sein, da er sich sofort ausrechnet, mein Gott, wie lange hat sie daran gesessen, hat sie vielleicht eine Maschine gebaut, die das zeichnen kann? Nein, hat sie nicht – Wahnsinn, sie hat tatsächlich mehrere Wochen daran gesessen, ein paar Quadratzentimeter Papier mit einem feinen sich nur unmerklich hin und her verschiebenden Muster zu bedecken.
Warum?
Wie kann man so geduldig sein?
Zum Ausflippen.
Interessant ist, dass eine völlig stille, abstrakte und absolut unaggressive Zeichnung Aggressionen auslösen kann, und zwar einmal aufgrund der motorischen Arbeit, die mit Entsetzen bemerkt wird, sobald man näher an das Blatt herantritt, dann aber eben auch aufgrund der Abstraktheit, welche die Form hat.
Vermutlich geistern bestimmte Vorstellungen von Abstraktion in den Köpfen der Betrachter, die aggressiv werden beim Anblick der Zeichnungen, herum, etwa dass Abstraktion ja auch schnell gehen kann, wie bei den Expressionisten oder noch besser im Informel, und wenn man schon so lange an etwas arbeitet, dann sollte da doch mehr Inhalt sein, etwa: in der Zeit, die das gedauert hat, diese Struktur aufs Papier zu bringen, hat Immanuel Kant die ganze Kritik der Urteilskraft geschrieben oder so ähnlich.
Hätte sie eine Karte der Mondoberfläche mit allen Kratern und Nebenkratern gezeichnet, wäre der Aggressionsanfall nicht so heftig. Kein normaler Mensch hat in der nächsten Zeit Gelegenheit, auf dem Mond spazieren zu gehen, braucht deshalb also streng genommen auch keine Karte davon, aber informierte Gebilde wie Landkarten oder Telefonbücher bewegen sich im Schutz vorgeblicher Nützlichkeit. Könnte ja sein, dass man mal jemanden anrufen will, dessen Nummer im Telefonbuch von Uelzen oder Paderborn steht, und vielleicht klappt es ja doch noch mit der Mondwanderung.
Hätte, hätte, Fahrradkette, vermutlich bringt einen die Fahrradkette weiter, kleine Glieder, die als Kette miteinander verbunden sind und ihren Kollegen den anderen kleinen Kettengliedern möglichst gleichen müssen, da nur mit absolut perfekt identischen Kettengliedern eine Kette und ein Zahnrad (das muss natürlich ebenso perfekt ausgesägt sein) ohne sofortigen Totalschaden zusammenwirken.
Was kann man sagen? Nun, Renata Palekcic hat hier eine ganze Menge Zahnräder vergessen, so scheint es. Denn es hängen gefühlt 10.000 winzige Ketten an- und nebeneinander, und weit und breit gibt es keine Übersetzung, sie baumeln einfach so vom oberen Bildrand herab und kribbeln umeinander, es fehlt übrigens alternativ auch ein Hals (ein kümmerlicher, aber weit verbreiteter Ersatz für Zahnräder), um den man das Gebilde womöglich als Schmuck legen könnte – nichts, gar nichts.
Also, jeder, aber wirklich jeder darf riesige Mengen Zeit vertrödeln, vorm Computer, vor dem TV-Gerät, im Fitnesscenter oder meinetwegen auch über Mondkarten gebeugt, diese Zeitvertrödelungsorte sind gesellschaftlich nicht geächtet, weil ihnen wiederum ein vorgeblicher Nutzen anhaftet. Denn angeblich kommuniziert man auf Facebook, informiert sich übers Fernsehen und hält sich gesund in der Muckibude (diese Behauptungen können allerdings stark bezweifelt werden).
Jedenfalls lösen diese Beschäftigungen bei den meisten Menschen im Alltag nicht so heftige Aggressionen aus wie eine einzige Zeichnung von Renata. Tatsächlich wird dieser Hassanfall beim Betrachten dieser kleinen Kettchen ohne Übersetzung oder andere »sinnvolle« Aufgabe aber ausgelöst, weil man sofort ein erkenntnisphilosophisches Riesenproblem hat: Beim Anschauen der Zeichnung denkt man nämlich an die Zeit, die das gekostet hat, und dann denkt man daran, wie lange man heute schon wieder wo überall rumgedaddelt hat, und schon hat man den feinsten Selbsthass in Gang gebracht.
Denn bevor man sich das Hirn verkleistert mit Nachrichten aus aller Welt, die einen nicht interessieren, und stundenlang Musikvideos anglotzt, die kein Mensch verstehen kann, könnte man ja viel besser selber einer Tätigkeit nachgehen, die sich ganz still, ganz konzentriert und unendlich fortsetzbar im eigenen Selbst entfaltet, ohne dabei anderer Leute Ohren, Augen und Hirne zu strapazieren.
Das hat Tradition, Hanne Darboven hat es so gemacht, Jan Schoonhoven auch, die Mikrogramme von Robert Walser muss man so verstehen, und die versammelte Mannschaft buddhistischer oder sonst wie meditierender Zeitgenossen versucht es leibhaftig.
Renata zeichnet es. Sie wird dabei nicht didaktisch und versucht niemanden zu bekehren, sie illustriert nicht die allgemeine Neurasthenie oder behauptet irgendeinen (unhaltbaren) medienkritischen Kram, sondern sie hat eine Methode für sich entwickelt, immun gegen die Anwürfe der Wirklichkeit zu sein – zumindest während sie zeichnet. Sie braucht dafür einen Stift mit feiner Spitze und ein Blatt Papier.
Und nun noch einmal zum neurasthenischen Betrachter, der womöglich gestresst auf diese Zeichnungen reagiert. Ist man erst mal so weit, sich eingestehen zu können, dass man ein Nervenbündel ist und keine zehn Kringel in der Manier von Renata zu zeichnen imstande ist, auch nicht beim Telefonieren, ist es Zeit, noch einmal genauer hinzuschauen, denn sie hat ja nicht für sich allein gezeichnet, sondern das Bild ist da, und der großen Arbeitsteilung folgend, bleibt einem jetzt die Aufgabe, nur zu schauen.
Und es geht den Betrachtern wie in der ersten Strophe des Weihnachtslieds Was soll das bedeuten?. Nämlich: Wie glänzen die Sternlein je länger, je mehr.
Also je länger man schaut, umso mannigfaltiger wird das Gebilde, ohne freilich jemals die Abstraktion zu verlassen, man kann ganz darin verschwinden, und das umso besser, als es sich nicht um eine versteckte Denksportaufgabe handelt, die man erst entdecken und dann knacken muss, sondern um ein Gespinst aus Zeit und Tusche, welches sich fort- und fortspinnt.
Man braucht dafür keinen Audioguide, muss nicht die aktuell angesagte Modephilosophie gelesen haben und benötigt keine Schutzkleidung, muss sich also dafür nicht durch materialintensive Installationen quetschen.
Die Grenzen des gezeichneten Gebildes sind zwar klar erkennbar, erscheinen aber nicht endgültig, etwa wie Seifenschaum, dessen Form sich zwar ständig wandelt, aber niemals aufhört, Seifenschaum zu sein.
Auch der Betrachter kann in den Strukturen von Renata Palekcic treibend, gleitend den Anwurf der Wirklichkeit suspendieren, mindestens solange er vor dem Bild bleibt, wer sich einen Nachhall des visuellen Erlebens auf die eigene Hauptplatine ziehen kann, ist ein glücklicher Mensch.
(Nora Sdun, 2014)